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Fallgeschichte Suizidversuch und Hilfsmöglichkeiten
Projekt zur Suizidverhütung bei jungen türkischen Migrantinnen in Deutschland: "Beende Dein Schweigen, nicht Dein Leben"

Wie Emine versuchte, sich das Leben zu nehmen – und wie ihr aus dem seelischen Tief geholfen wurde

Mädchen und junge Frauen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland begehen fast fünfmal so häufig einen Suizidversuch wie gleichaltrige Frauen, die aus einer deutschen Familie stammen. Um den Gründen genauer auf die Spur zu kommen und vor allem auch, um den oft verzweifelten Frauen aus türkischstämmigen Familien konkret Auswege aufzeigen zu können, finanziert das Bundesforschungsministerium ein Forschungsprojekt. In diesem Rahmen hat die Charité Berlin im Juni die Aufklärungskampagne "Beende Dein Schweigen, nicht Dein Leben" gestartet (beteiligte Institutionen s.u.).
Schon jetzt konnte vielen Betroffenen geholfen werden, wie das nachfolgende Beispiel zeigt.


Emine Selcuk* ist jetzt 18 Jahre alt. Sie wurde in Deutschland geboren und ist die Älteste von drei Geschwistern. Sie steht kurz vor dem Abitur und möchte studieren. Ihre Familie ist jedoch der Meinung, sie solle sich lieber einen Job suchen, um mit dem verdienten Geld eine gute Aussteuer kaufen zu können. Schließlich werde sie mal heiraten, und ihr Ehemann werde sie ja versorgen – wozu also studieren.
Emine ist ein sehr attraktives junges Mädchen, die sich gut bedecken muss, um "den Männern nicht den Kopf zu verdrehen". Sie darf seit jeher keine engen Hosen und schon gar keine kurzen Röcke tragen und sich nicht schminken – alles Dinge, die für viele ihrer Freundinnen (nur wenige von ihnen kommen ebenfalls aus türkischen Familien) selbstverständlich sind. Oft gibt es zu Hause Ärger, wenn sie mal mit Freundinnen Kaffee trinken gehen oder sich an anderen Freizeitaktivitäten beteiligen möchte. Mit großer Scham erinnert sich Emine auch an die Auseinandersetzungen ihrer Familie mit der Berliner Schule, als es um die Teilnahme am Schwimmunterricht ging.
Wenn sie ausgehen wollte, hat die Mutter gesagt, sie solle lieber im Haushalt arbeiten, vor allem, "um zu lernen, eine gute Ehefrau zu werden". Immer wieder gab es darüber Auseinandersetzungen, und wenn Emine nicht folgsam genug war, drohte die Mutter, den Vater einzuschalten. Dieser ist ein angesehener Mann in der türkischen Community, der auf seinen guten Ruf bedacht ist und daher immer wieder seine Kinder anhält, "vernünftig" zu sein. Auch Emines etwas jüngere Brüder hängen eher dem traditionellen Frauenbild an, wie es noch heute in manchen Teilen der Türkei vorherrscht.


Dann verliebt sich Emine in einen jungen Mann aus ihrer Schule, mit dem sie sich heimlicht trifft und SMS austauscht. Eines Tages schöpft ihre Mutter Verdacht, kramt in ihren Sachen rum und entdeckt einen Zettel mit einer "Liebesbotschaft". Damit konfrontiert, gesteht Emine ihrer Mutter, dass sie sich in "einen Deutschen" verliebt habe. Sie hofft darauf, dass die Mutter mehr Verständnis hat als die Männer der Familie. Doch die Mutter "alarmiert" den Vater, und nun darf Emine überhaupt nicht mehr alleine ausgehen, auch nicht, um sich mit einer Freundin zu treffen, und sie muss sofort nach der Schule zurück kommen. Auch von anderen Verwandten muss sie sich immer wieder anhören, was für eine schlechte und undankbare Tochter sie sei. Sie beflecke die Familienehre. Kurze Zeit später halten Bekannte aus Süddeutschland, die aus der gleichen Region wie ihre Familie stammen, für ihren Sohn um Emines Hand an. Sie soll also einen Mann heiraten, den sie bis dahin noch nie gesehen hat. Als sie sich wehrt und auch sagt, dass sie in einen Anderen verliebt sei, stellt sich die gesamte Verwandtschaft gegen sie. Emine wird als eine Schande für die Familie bezeichnet und darf nur noch in Begleitung der Brüder zur Schule gehen. Ihr Bewegungsradius wird so noch massiver eingeengt und schnell wird ein Hochzeitstermin festgelegt, damit sie nicht "noch unvernünftiger" werden kann.


Als die Hochzeitsvorbereitungen beginnen, geht es Emine immer schlechter, sie ist verzweifelt und fühlt sich ohnmächtig und allein. In dieser scheinbar ausweglosen Situation unternimmt sie schließlich einen Suizidversuch. "Eine solche Vorgeschichte ist nicht ganz untypisch", erklärt Dr. Meryam Schouler-Ocak, Leiterin der Studie, denn "für junge Frauen aus türkischstämmigen Familien ist der Konflikt zwischen Rollenerwartung und moderner Lebensform im Aufnahmeland eine oft kaum auszuhaltende Belastung."


Nach ihrem Suizidversuch mit Tabletten wird Emine Selcuk in eine Rettungsstelle gebracht und dort unter anderem von einem Psychiater untersucht. Er stuft die junge Frau als weiterhin suizidgefährdet ein. Emine bleibt für eine Zeit in der Klinik. Dort nimmt sie unter anderem an einer Gruppentherapie teil. Alleine die Erfahrung, dass auch andere Mädchen ähnliche Schicksale erlebt haben und sich aus den familiären Zwängen befreien konnten, macht ihr Mut. Inzwischen ist sie selbstbewusster, über ihre Rechte informiert und weiß sich zu Hause besser durchzusetzen. Das Verhältnis zu Eltern und Brüdern ist zwar noch alles andere als konfliktfrei, aber sogar für den so sehr auf "Ehre" bedachten Vater war die Angst, seine Tochter zu verlieren, ein Schock. Emine plant nach dem Abitur, das sie in wenigen Wochen ablegen wird, eine eigene kleine Wohnung zu suchen. Sie ist noch nicht "geheilt", aber denkt kaum noch an Selbsttötung. Sie hat gelernt, sich, wenn sie traurig ist, zum Beispiel ihren Freundinnen zu öffnen – Emine ist auf einem guten Weg.


"Nicht immer verlaufen die Dinge so dramatisch wie in diesem Fall", berichtet Dr. Schouler-Ocak. Vielfach rufen junge Frauen aus türkischen Familien mit Suizidgedanken bei der Hotline** an. Dort hört man ihnen verständnisvoll zu und vermittelt Kontakte zu Anlaufstellen. "Zwar müssen wir noch die wissenschaftliche Auswertung abwarten, aber schon jetzt deutet sich an, dass die Kampagne zur Suizidverhütung ein Erfolg wird", so die Studienleiterin.

* Name geändert – Die Zusicherung der Anonymität ist für erfolgreiche Hilfe ausschlaggebend
** Gilt nur für Hilfesuchende aus Berlin!


Weitere Informationen:
Internetseite für Betroffene >>
auf Türkisch >>


Initiator des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Forschungsprojektes "Suizidraten und Suizidprävention bei türkischen Frauen in Berlin" ist die Psychiatrie der Charité Berlin (Direktor: Prof. Andreas Heinz), SpiMig-Team (Suizidpräventionsinitiative für Frauen mit türkischem Migrationshintergrund) Es wird unterstützt vom UKE Hamburg, dem Krisendienst Berlin Mitte sowie dem Berliner Bündnis gegen Depression. Sponsoren: wbpr Public Relations GmbH, Metropol Druck und MWM-Vermittlung Schirmherrschaft: Prof. E. J. Zöllner, Wissenschaftssenator Berlin

Meldung von Justin Westhoff, MWM-Vermittlung, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften vom 05.08.2010

Quelle: MWM-Vermittlung

Veröffentlicht: 2010-08-15

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