Die Umstellung auf elektronische Patientendossiers und Verordnungssysteme bietet viele Chancen für die Patientensicherheit. Ein Vorteil ist, dass Arzneimittelverordnungen im Moment der Verordnung auf bekannte Allergien geprüft werden können. Die verordnende Fachperson wird auf die Allergie hingewiesen und kann die Verordnung anpassen. Topaz und Kollegen untersuchten in ihrer retrospektiven Analyse, wie häufig es zu Allergie-Warnmeldungen kommt, welche Arzneimittel betroffen sind und wie Verordnende mit den automatisierten Warnungen umgehen.
Sie werteten dafür die Arzneimittel-Allergie-Warnmeldungen aus zwei grossen US-amerikanischen Lehrkrankenhäusern über eine Dekade (Jahre 2004-2013) aus. In diesen Spitälern werden Allergiewarnungen ausgelöst durch das Zusammenspiel vosn elektronischer Patientenakte (dokumentierte Allergie) und dem elektronischen Verordnungssystem (neue Verordnung). Das System unterscheidet zwischen «definitivem Treffer» (exakte Übereinstimmung zwischen Allergen und verordnetem Medikament), «wahrscheinlichem Treffer» (das verordnete Medikament entspricht der Allergen-Gruppe des dokumentierten Allergens) und «möglichem Treffer» (die Kreuz-Sensitivitätsgruppe des Allergens gehört zur Kreuz-Sensitivitätsgruppe der Inhaltsstoffe des verordneten Medikaments). Die Art des Treffers wird bei der Meldung deklariert. Eine Warnmeldung enthält ausserdem Angaben über die bisherigen allergischen Reaktionen des Patienten.
Diese wurden für die Studien nach zwei Kriterien klassifiziert:
- 1) potentiell immunologisch mediierte Reaktion (z.B. Hautausschlag, Anaphylaxie) vs. nichtimmunologisch mediierte Reaktion (z.B. Übelkeit, Erbrechen);
- 2) potentiell lebensbedrohlich (z.B. Anaphylaxie, Bronchospasmus) vs. nichtlebensbedrohlich (z.B. Magenverstimmung, Übelkeit). Löst das System eine Warnmeldung aus, kann die verordnende Fachperson entweder die Verordnung anpassen oder die Warnung übergehen.
Dafür müssen im studierten Setting Gründe angegeben werden. Insgesamt wurden über 600‘000 Warnmeldungen ausgewertet. Fast die Hälfte der Warnungen bezog sich auf Narkotika-Verordnungen (48%), weitere 10% auf Antibiotika und 6% auf Analgetika. Etwa ein Drittel der bekannten allergischen Reaktionen wurden als potentiell immunologisch mediiert eingestuft (34%), knapp die Hälfte als nichtimmunologisch mediiert (45%), bei dem Rest war die Art der Reaktion unbekannt. 68% der bekannten früheren Reaktionen wurden als nichtlebensbedrohlich bewertet, 10% als potentiell lebensbedrohlich, der Rest war unbekannt.
Bei der überwiegenden Zahl der ausgelösten Meldungen handelte es sich um einen «wahrscheinlichen Treffer» (75%). In nur 12% lag ein «definitiver Treffer» zwischen Allergen und Verordnung vor. Insgesamt wurden 86% aller Warnmeldungen übergangen, das heisst, die Verordnung wurde nicht angepasst. Dieser Anteil nahm von 2004 (83%) bis 2013 (88%) zu. 75% der Warnungen mit «definitivem Treffer» wurden übergangen; von den potentiell immunologisch mediierten Reaktionen mit «definitivem Treffer» wurden 73% und von den potentiell lebensbedrohlichen Warnungen mit «definitivem Treffer» wurden 74% übergangen.
Die Hauptgründe für das Übergehen der Warnungen waren, dass der Patient das verordnete Medikament in der Vergangenheit gut toleriert hatte (51%), dass es keine Alternative zum verordneten Medikament gab (13%) oder dass der Patient angab, diese Allergie nicht zu haben (3.5%). Nach der ersten Auslösung wurde die initiale Warnung durchschnittlich 2.3mal wiederholt. Wiederholte Warnmeldungen wurden häufiger «weggeklickt» als initiale Warnungen. Die Analyse von Topaz et al. zeigt, wie gross das Ausmass von «konsequenzlosen» elektronischen Warnungen im heutigen klinischen Alltag werden kann. Der potentielle Nutzen für die Patientensicherheit wird dadurch erheblich reduziert.
Wenn täglich tausende Meldungen «weggeklickt» werden müssen, dann führt dies zu vielen (gefährlichen) Unterbrechungen, zu Ermüdung und im entscheidenden Moment vielleicht zu Unaufmerksamkeit für die eine relevante Warnung (zusammengefasst als «alarm fatigue»). Eine wichtige Beobachtung der Studie ist, dass die verordnenden Fachpersonen eine Warnung auch wenn der Patient das Medikament in der Vergangenheit gut toleriert hat lieber mehrfach «wegklicken» als den Allergieeintrag im Patientendossier zu ändern. Vermutlich wird die Änderung des Allergieeintrages mit einer Verantwortungsübernahme assoziiert, die Verordnende zu dem betreffenden Zeitpunkt nicht übernehmen können oder wollen. Klar ist, dass die Zukunft intelligentere Systeme erfordert, um den Umgang mit Allergie-Informationen im klinischen Prozess besser zu unterstützen.
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