Eine vorangehende Befragung bei über 3’000 Mitarbeitenden der Pilotspitäler hat gezeigt, dass es mit dem schnellen Einführen und Abhaken der Checkliste nicht getan ist. Es braucht fundierte Wissensvermittlung und ein systemweites Umdenken, um die Sicherheitskompetenz trotz der branchenüblich hohen Personalfluktuation nachhaltig zu verankern. Um Schäden an Patienten zu vermeiden, zielt das Programm auf die 100%-ige und korrekte Anwendung der chirurgischen Checkliste: Ohne Ausnahme bei jeder Operation!
Schwerwiegende Operationsfehler wie Seiten- oder Eingriffsverwechslungen, Infektionen oder vergessene Fremdkörper sind auch in der Schweiz keine Seltenheit. Obwohl sich viele unerwünschte Ereignisse mit der systematischen Anwendung der chirurgischen Checkliste verhindern oder rechtzeitig auffangen liessen, ist diese elementare Sicherheitsmassnahme in der Schweiz nicht flächendeckend implementiert. Hier setzt das im Sommer 2013 lancierte Pilotprogramm progress! Sichere Chirurgie von patientensicherheit schweiz an: Ziel ist die ausnahmslose und korrekte Anwendung der Checkliste bei jedem invasiven Eingriff.
„Wir zielen bewusst auf 100%, weil es bei jeder Operation um die Sicherheit und das Leben eines Menschen geht. Nur wenn immer alle Punkte der Checkliste durchgegangen werden, lässt sich die Zahl der unerwünschten Ereignisse senken“, betont die Programmleiterin Paula Bezzola von patientensicherheit schweiz. Bei richtiger und konsequenter Anwendung fördert die Checkliste zudem die strukturierte Teamkommunikation über Hierarchiehürden hinweg und minimiert so die Risiken für menschliche Fehleinschätzungen.
Befragung zeigt Verbesserungspotenzial bei Checklistenanwendung
Zu Projektbeginn im Winter 2013 wurde in den zehn Pilotspitälern eine Befragung zur Ausgangslage bei über 3‘000 Mitarbeitenden aus dem OP-Bereich sowie vor- und nachgelagerten Stationen durchgeführt. Untersucht wurden das Wissen und die Einstellung zur chirurgischen Checkliste sowie das Sicherheitsklima.
Die Resultate zeigten drei Kernthemen auf:
1. Noch keine 100%-ige Anwendung
Wie die Studie zeigte, bestand zu Projektbeginn bei allen Pilotbetrieben Verbesserungsbedarf, da die vorhandenen Checklisten in keinem Spital bei jeder Operation angewendet wurden.
2. Mangelnde Zufriedenheit mit der Umsetzung
Ebenfalls von Optimierungsbedarf zeugte die Tatsache, dass knapp 40% der Befragten noch nicht zufrieden waren mit der Umsetzung der Checkliste in ihrem Betrieb.Um dies zu verändern und die anspruchsvollen Projektziele zu erreichen, haben die Spitäler hohe personelle und finanzielle Ressourcen freigestellt. So haben sie die Checkliste auf ihre Bedürfnisse angepasst, ihr OP-Personal geschult und die Anwendung im interprofessionellen Team trainiert.
Stimmen aus der Praxis:
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Dr. med. Marianna Friedli-Braun, Leitende Ärztin Chirurgie am Kantonsspital Graubünden: "Um die Zufriedenheit und Compliance zu erhöhen, war für uns die lokale Anpassung der Checkliste zentral. Konkret haben wir z.B. das Sign Out (Schlussteil der Checkliste für postoperative Prozesse) ergänzt, das Format und Layout angepasst, die Antwortfelder klarer gestaltet und fixe Zuständigkeiten definiert. Das alles soll den Ablauf klarer und sicherer machen."
- Fiona Schreve Bloem, Riskmanagerin und Mitglied der Klinikleitung am Genfer Hôpital de la Tour: „Wir haben die Mitarbeitenden in obligatorischen interdisziplinären Kursen geschult und dabei vor allem die strukturierte Teamkommunikation gefördert. Dass jeder, unabhängig von seiner Hierarchiestufe, das Wort ergreifen musste, war ein grosses Novum und hat ein ganz neues Bewusstsein der Mitverantwortung jedes einzelnen Teammitglieds geweckt.“
- Franz Gerig, Leiter Anästhesiepflege am Kantonsspital Uri: "In unseren Trainings haben wir unter anderem auch verschiedene Rollentauschübungen gemacht, um die unterschiedlichen Perspektiven besser zu verstehen und den Teamgedanken zu stärken. Dass ein Chirurg zum Beispiel einmal in der "Haut" einer Anästhesiepflegefachperson steckte, hat viel zum gegenseitigen Verständnis beigetragen."
3. Ungenügende Kenntnis der Checklisteninhalte
Internationale Studien4 belegen, dass das Wissen zur Checkliste entscheidend ist für das Erreichen einer 100%-igen Compliance. In der Befragung zu Projektstart wurden aber nur 7 der 10 gestellten Fragen korrekt beantwortet und nur 4.3% der Personen erreichten alle 10 richtigen Antworten. Dies zeigt: Obwohl schon ein solides Fundament vorhanden ist, gilt es noch Wissenslücken zu schliessen, um die Basis für eine vollständige und korrekte Anwendung zu legen.
Paula Bezzola sieht darin die Programmschwerpunkte bestätigt: „Der Fokus auf Weiterbildung und Trainings ist wichtig und der damit verbundene Aufwand muss fortgesetzt werden.“
Stimmen aus der Praxis:
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Dr. med. Dominique Thorin, Chefarzt der Klinik für Operationszentren am Freiburger Spital HFR: „Bei uns war die Wissensvermittlung ein wichtiger Schwerpunkt: Nach engem Einbezug der Klinikleitung haben wir die Weiterbildung für obligatorisch erklärt und an drei Nachmittagen alle Operationssäle (ausser dem Notfall) geschlossen, um alle OP-Mitarbeitenden für die Sicherheitsschulung freizustellen.“
- Dr. med. Henry Hoffmann, Oberarzt Viszeralchirurgie am Universitätsspital Basel: „Da es in einem so grossen Betrieb wie dem unseren schwierig ist, alle Mitarbeitenden zu erreichen, haben wir zusätzlich zu den Schulungen mit dem Material von patientensicherheit schweiz noch ein hauseigenes e-Learning Tool entwickelt, das alle absolvieren müssen.“
Weitere Efforts für 100%-ige Umsetzung und Nachhaltigkeit
Um die Checkliste in der erforderlichen Anwendungsqualität nachhaltig zu verankern, darf sie angesichts der hohen Personalfluktuation in medizinischen Berufen nicht von Einzelpersonen abhängen, sondern bedarf einer Kulturveränderung des gesamten Systems. Das bedingt eine Standardisierung der Prozesse, fundiertes Hintergrundwissen und effiziente Trainings.
Deswegen bietet das Programm progress! Sichere Chirurgie mit seinen klaren Zielen und Aktivitäten eine ideale und fundierte Stütze bei der Umsetzung systemverändernder Prozesse. „Unser Ziel ist, dass die vollständige und korrekt angewandte Checkliste überall zum verbindlichen Qualitätsstandard wird“, betont Paula Bezzola. Im Jahr 2015 wird überprüft, ob die gemeinsam gesteckten Ziele erreicht worden sind.