Ausgegrenzt – mit übergewichtigen Kindern will niemand befreundet sein
Sie erkranken schneller am Herzen, leiden häufiger an Bluthochdruck und bekommen im Alter eher Diabetes als der Durchschnittsdeutsche. Das ist seit Jahren bekannt und empirisch belegt. Weniger bekannt ist: Stark dickleibige Menschen werden sozial ausgegrenzt und negativ beurteilt. Wie eine soeben veröffentlichte Studie in der Fachzeitschrift "PPmP – Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie" (Georg Thieme Verlag, Stuttgart. 2008) belegt, werden adipöse Kinder und Jugendliche von ihren Altersgenossen für unsympathisch, unattraktiv, faul und wenig intelligent gehalten.
Ein Forscherteam um den Sportpädagogen und Psychogerontologen Ansgar Thiel von der Universität Tübingen legte 454 Kindern im Alter von zehn bis 15 Jahren eine Vielzahl von Fotografien vor. Darauf abgebildet: Normalgewichtige Jungen und Mädchen, Kinder im Rollstuhl und fettleibige junge Menschen. Die Probanden sollten angeben, ob sie mit den auf den Fotos abgebildeten Kindern gerne spielen würden und ob sie die dargestellten Personen klug und sympathisch fänden.
Das Ergebnis: Fettleibige Kinder haben einen sehr geringen sozialen Status – kaum jemand möchte mit ihnen spielen. Sie werden für weniger sympathisch und für unintelligenter gehalten als normalgewichtige oder körperbehinderte Kinder. "Die Ergebnisse zeigen, dass die adipösen Kinder insgesamt im Mittel als am wenigsten sympathisch angesehen werden und auch bei der Spielkameradenpräferenz am schlechtesten abschneiden", resümiert Thiel. Außerdem werden dickleibige Kinder häufiger als andere für dumm und faul gehalten. Besonders hart fällt das Urteil über schwergewichtige Jungen aus: Sie sind die Faulsten der Faulen. Und als Spielpartner tabu.
Versuchspersonen schließen von der Physis eines Menschen auf dessen psychische Eigenschaften. Hierbei verfahren sie nach einer einfachen "Regel", die da lautet: Dick gleich dumm. Die Gründe hierfür: Zum einen gilt Schlankheit als Idealzustand in westlichen Gesellschaften. Wer dieser Norm nicht entspricht, muss mit Ausgrenzung rechnen. Zum andern wird Übergewicht als selbstverschuldet und damit verurteilungswürdig angesehen.
Mit dieser Studie gelang erstmals der Nachweis, dass nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland adipöse Menschen massiv abgewertet werden, ohne dass es dafür einen rationalen Grund gäbe. Wie mehrere amerikanischen Untersuchungen zeigen, wollen Studenten in Nordamerika lieber mit einem Blinden, einem Ladendieb oder einem Kokainabhängigen liiert sein als mit einem dicken Menschen. So ist es nicht verwunderlich, dass das soziale Netz von adipösen Kindern wesentlich kleiner ist und dass sie häufig körperlichen Attacken ausgesetzt sind. Die Diskriminierung von übergewichtigen Menschen beginnt im Kindesalter, so Thiel.
A. Thiel et al.: Stereotypisierung von adipösen Kindern und Jugendlichen durch ihre Altersgenossen.
PPmP – Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie 2008; 58 (12): S. e16-e24
Extremes Übergewicht bei Kindern ist oft ein Familienproblem
"Der Apfel fällt nicht weit vom Baum." Diese alte Redensart trifft in gewissem Sinne auch auf ein derzeit hochaktuelles Problem zu: Kinder, die wegen Übergewicht oder Fettsucht in Behandlung sind, haben einer Studie in der Fachzeitschrift "DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift" (Georg Thieme Verlag, Stuttgart. 2008) zufolge sehr häufig übergewichtige Eltern und Geschwister.
Für ihre Untersuchung konnten Dr. med. Markus Röbl von der Universität Göttingen und Co-Autoren auf eine Datenbank der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter zurückgreifen. Therapeuten aus 125 Zentren in Deutschland, Österreich und der Schweiz haben dort Angaben zu bislang 30 000 Kindern gemacht. Sie dokumentieren nicht nur Übergewicht oder Fettleibigkeit der Kinder. Die Eintragungen zeigen auch, dass viele Eltern und Geschwister ebenfalls Gewichtsprobleme haben. Nicht einmal jede dritte Mutter und weniger als jeder fünfte Vater hatte Normalgewicht, berichten Röbl und Kollegen. Die anderen waren wie ihre Kinder übergewichtig, teils auch fettleibig. Bis zur Pubertät ist vor allem eine Ähnlichkeit zur Mutter erkennbar. Danach steigt der Einfluss des Vaters. Doch die Mutter prägt die Kinder mehr: Statistisch gesehen, so rechnet Röbl vor, sind zehn Prozent der Unterschiede im Übergewicht der Kinder durch die Eltern bedingt. Und davon gehen allein 7,9 Prozent auf die Mutter zurück. Nicht selten sind beide Elternteile übergewichtig. Auch die Geschwister sind oft zu gut genährt. Sie waren fast doppelt so häufig übergewichtig wie vom Bevölkerungsdurchschnitt zu erwarten, schreiben die Autoren.
Die Ursache sehen die Experten nicht allein in den Genen oder – wegen der größeren Ähnlichkeit zur Mutter – in einer Prägung im Mutterleib. Viele Eltern seien auch im Bewegungs- und Essverhalten ein schlechtes Vorbild für ihre Kinder. Röbl rät deshalb, bei starkem Übergewicht die gesamte Familie, auf jeden Fall aber die Mutter in die Behandlung einzubeziehen.
M. Röbl et al.:
Adipositas bei Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern.
DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift 2008; 133 (47): S. 2448-2453